Projekt H - Erste Förderphase
"Irre" in Hamburg.
Psychische Devianz auf See und in den Kolonien (1880-1920)
Zusammenfassung
Die Verkehrs- und Handelsmetropole Hamburg war während des Untersuchungszeitraumes ein international bedeutender Transithafen und die maßgebende deutsche Kolonialmetropole der Kaiserzeit. Beide Bereiche – Überseeverkehr und Kolonialismus – erlauben im Rahmen des Verbundprojekts „Kulturen des Wahnsinns (1870-1930)“ in exemplarischer Weise den methodischen Zugriff auf das Thema mit Hilfe der heuristischen Kategorien „Schwellenphänomen“ und „Schwellenraum“. In Hamburg werden durch die Berührungspunkte von psychiatrischem Diskurs, medialer Kultur und hanseatischen überseeaktivitäten Personengruppen greifbar, die in anderen deutschen oder auch europäischen Städten gar nicht oder nur schwer nachweisbar sind. Im Rahmen des Projekts werden in einer ersten Phase (bis 14. April 2009) die sog. „geisteskranken Rückwanderer“ untersucht, die nach ihrer Ausweisung aus den USA und ihrer Rückkehr nach Hamburg in der städtischen Irrenanstalt Friedrichsberg behandelt wurden. Als zweite Patientengruppe sollen diejenigen progressiven Paralytiker betrachtet werden, die nach dem Ersten Weltkrieg in Hamburg der Malaria- bzw. Fiebertherapie unterzogen wurden. Hier wurde der Diskurs über den Wahnsinn, speziell zur progressiven Paralyse, in einer komplementären Weise zwischen der Irrenanstalt Friedrichsberg und dem nach dem Verlust der deutschen Kolonien nach neuen Funktionen suchenden Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten (Hamburger Tropeninstitut) verdichtet, was auf die Besonderheiten der Forschungslandschaft und Wissenschaftskultur Hamburgs als einer bedeutenden europäischen Kolonial- und Verkehrsmetropole verweist. Psychiatrisch relevante tropenmedizinische Phänomene (Infektionspsychosen, „Tropenkoller“ etc.) sollen in einer zweiten Phase (ab 15. April 2009) anhand einschlägiger Krankenakten quantitativ-statistisch erfasst und mit Hilfe der oben genannten Kategorien bearbeitet werden. Es bestand ein eigenes psychiatrisches Interesse am Auftreten des Wahns in den Tropen, das von dem wissenschaftlichen Wunsch bestimmt war, neue Aufschlüsse zum Wahnsinn in Europa zu erhalten. Die hierbei bestehenden Schnittstellen zu der „Ethnopsychiatrie“ sind bei der Rekonstruktion neuer epistemologischer Figurationen des Wahnsinns ebenfalls zu berücksichtigen. Als relevante Berufsgruppen im Bereich Übersee und Überseehafen werden in den psychiatrischen Krankenakten unter anderem Heizer und Kohlenzieher (Trimmer) sowie Kaufleute greifbar, die sich längere Zeit in den Tropen aufgehalten haben. Diese Personen sind in spezifischer Weise mit dem Phänomen des Schwellenraumes konfrontiert; die dabei entstandenen psychischen Phänomene unterschiedlichster Art verlangten neue Grenzziehungen im Hinblick auf den modernen Wahnsinn.