Mitarbeiter/innen

Charité - Universitätsmedizin Berlin
Institut für Geschichte der Medizin 

Teilprojekte Zweite Phase

Projekt A - Zweite Förderphase

Teilprojekte

Die Revolution als „psychopathologische Fundgrube“.

Städtische Lebenswelten, Kriegsfolgen und Krisenbewältigung aus psychiatrischer Sicht (Berlin 1918-1923)

 

Zusammenfassung 

 Davon ausgehend, in einer Zeit des Untergangs überwertiger traditioneller Ideen zu stehen, erblickten deutsche Psychiater nach 1918 in der Erscheinung einer „gesteigerten Suggestibilität der Massen“ ebenso wie in den zahlreich auftretender „psychopathischer Führertypen“ eine akute Gefahr des Zurückfallens auf eine primitivere Form psychischer Gesamtverfassung des „Volkskörpers“. Über die Virulenz und den epidemischen Charakter dieser Phänomene wurde nicht nur umfangreich (populär-) wissenschaftlich publiziert; sie fanden als Metaphern („morbus democraticus“) auch Eingang in Kultur und Medien und beeinflussten konkret medizinisches und Verwaltungshandeln sowie politische Entscheidungen. Diesen Erscheinungen wird anhand zeitgenössischen psychiatrischen Schrifttums, Einzelfallakten und biographischer Fallstudien vor allem am Beispiel Berlins für die Jahre 1918 bis 1923/24 nachgegangen. Die Beschreibung und Analyse rivalisierender politischer und kultureller Ordnungsvorstellungen aus der Perspektive der Psychiater soll eine Darstellung der urbanen Moderne und ihrer vielfältigen Äußerungen aus der Verneinung heraus ermöglichen.

Die Verfolgung der Debatten um die Psychologie der Massen und der Massenbewegungen offenbart den Versuch, die vermeintlich soziale und politische „Pathologie“ der Revolution zu erfassen, zu systematisieren und im gegenrevolutionären Sinne zu instrumentalisieren. Die Revolution wurde als ein sozial- oder psychopathologisches Trauerspiel wahrgenommen, in dem die Grundlagen der bürgerlichen Moral und Kultur unterminiert wurden, mithin die Volksgesundheit auf dem Spiel stand. Die zeitgenössischen Texte zur Revolution, zu den Eigenschaften der Masse und ihrer Führer lassen sich – im Gewand psychiatrischer Expertisen – so als subjektive Abneigung gegen den objektiven Tatbestand eines säkularen Wandels hin zur neuen demokratischen Ordnung lesen; die psychiatrischen Bestrebungen richteten sich dabei auf hergebrachte Wertvorstellungen und die Restauration des traditionellen autoritären Systems im Gewand der „Volksgemeinschaft“.

Die mangelnde Fähigkeit sich mit der Realität auseinanderzusetzen, legt es nahe, von einem Abwehrmechanismus der Psychiater gegenüber den Zeitereignissen zu sprechen, der von einer Verklärung der Vorkriegszeit geprägt war. Ein aus dieser Haltung erwachsender renitenter Pessimismus und eine dogmatische Rückwärtsgewandtheit erlauben es, so die These, von einer antimodernen politisch-kulturellen Schieflage großer, jedenfalls aber tonangebender Teile der Psychiatrie in der Weimarer Republik zu sprechen.

Dem reaktionären und restaurativen Impetus psychiatrischer Deutungen und Strategien soll zum einen anhand psychiatrischer Publikationen (resp. Publikationen von Psychiatern), die sich an ein größeres Publikum wandten, des weiteren anhand publizierter Pathographien und Kasuistiken sowie darüber hinaus anhand psychiatrischer Patientenakten aus den Jahren 1918-1923/24 nachgegangen werden.